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Der Flüstermann B2.2

A horror story by Friedrich Nachtigall

In einem kleinen Dorf, umgeben von dichten Wäldern und nebelverhangenen Hügeln, lebte ein geheimnisvoller Mann, den die Dorfbewohner nur den Flüstermann nannten. Niemand kannte seinen Namen oder seine Herkunft, doch jeder wusste, dass er etwas Unheimliches an sich hatte. Er war oft in der Nähe des alten Friedhofs zu sehen, wo er mit leisen, kaum hörbaren Stimmen sprach.

Eines Abends, als der Mond hoch am Himmel stand und die Sterne funkelten, beschloss eine Gruppe von Freunden, dem Flüstermann einen Besuch abzustatten. Sie waren neugierig und ein wenig aufgeregt. "Was könnte schlimmer sein als ein bisschen Nervenkitzel?" sagte Anna, die mutigste von ihnen. Ihre Freunde, Paul, Lisa und Marco, stimmten zu und machten sich auf den Weg zum Friedhof.

Als sie ankamen, war die Luft kühl und der Nebel umhüllte sie wie ein schwerer Schleier. Sie sahen den Flüstermann in der Ferne stehen, umgeben von schattenhaften Gestalten, die sich bewegten, aber nicht zu erkennen waren. Seine Stimme war sanft, fast hypnotisierend, und die Freunde konnten nicht anders, als näher zu treten.

„Was macht ihr hier?“ fragte der Flüstermann, als er sie bemerkte. Seine Augen funkelten im Mondlicht, und für einen Moment schien es, als könnte er in ihre Seelen blicken. 

„Wir wollten nur sehen, wer du bist“, antwortete Anna mutig. 

Der Flüstermann lächelte geheimnisvoll. „Manche Dinge sollte man besser nicht wissen. Aber wenn ihr schon hier seid, dann kommt näher.“ 

Die Freunde zögerten, doch die Neugier war stärker. Als sie näher traten, bemerkten sie, dass die schattenhaften Gestalten tatsächlich die Seelen von Verstorbenen waren, die um den Flüstermann schwebten. Sie fühlten sich unwohl und wollten umkehren, doch der Flüstermann sprach erneut.

„Habt ihr Angst? Es gibt keinen Grund dazu. Die Seelen sind hier, weil sie eine Geschichte erzählen wollen. Eine Geschichte, die euch helfen könnte.“ 

Marco, der immer an übernatürlichen Phänomenen interessiert war, fragte: „Welche Geschichte?“ 

Der Flüstermann deutete auf eine der schattenhaften Gestalten, die wie eine alte Frau aussah. „Diese Dame war einmal eine weise Heilerin. Sie kann euch etwas über die Macht der Erinnerungen erzählen.“ 

Die alte Frau begann zu sprechen, und ihre Stimme war wie ein sanfter Wind, der durch die Bäume wehte. „Erinnerungen sind wie Schatten. Sie folgen euch, egal wohin ihr geht. Manchmal sind sie schön, manchmal schmerzhaft. Aber sie sind immer wichtig.“ 

Die Freunde hörten gebannt zu, während die alte Frau von ihrer Jugend erzählte, von den Entscheidungen, die sie getroffen hatte, und von den Menschen, die sie verloren hatte. Ihre Worte berührten die Freunde tief, und sie begannen zu verstehen, dass die Erinnerungen, die sie hatten, sie prägten. 

Plötzlich hörten sie ein lautes Krachen. Ein Baum in der Nähe war umgefallen, und der Boden unter ihren Füßen begann zu beben. In Panik rannten die Freunde zurück in Richtung des Dorfes. Doch als sie sich umdrehten, war der Flüstermann verschwunden, und die Seelen waren in den Nebel eingetaucht.

Am nächsten Tag sprachen die Freunde über das, was sie erlebt hatten. „Was war das für ein Ort?“, fragte Lisa. 

„Ich denke, wir haben etwas Wichtiges gelernt“, antwortete Paul nachdenklich. „Wir sollten unsere Erinnerungen nicht ignorieren. Sie machen uns zu dem, was wir sind.“ 

Die Tage vergingen, und das Erlebnis am Friedhof blieb den Freunden im Gedächtnis. Sie begannen, ihre eigenen Erinnerungen zu teilen und über die Bedeutung von Freundschaft und Verlust zu sprechen. Doch trotz ihrer Bemühungen, die Lektion zu verarbeiten, spürten sie, dass etwas Unheimliches in der Luft lag.

Eines Nachts, als sie zusammen saßen, hörten sie ein leises Flüstern. Es kam aus dem Wald. „Habt ihr das gehört?“, fragte Marco ängstlich. 

Die Freunde schauten sich an, und ihre Gesichter wurden blass. Das Flüstern wurde lauter, und sie erkannten die Stimme des Flüstermanns. „Kommt zurück! Ihr habt noch nicht alles gelernt!“ 

Furcht überkam sie, und sie beschlossen, nie wieder zum Friedhof zurückzukehren. Doch die Erinnerungen, die sie gemacht hatten, blieben bei ihnen, und das Flüstern ließ sie nicht los. Sie waren gefangen in einem Netz aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Geschichten und Schatten.

Die Monate vergingen, und die Freunde lebten in ständiger Angst. Immer wieder hörten sie das Flüstern, das sie rief. Schließlich beschlossen sie, das Dorf zu verlassen und einen Neuanfang zu wagen. Doch die Schatten ihrer Erinnerungen folgten ihnen, und das Flüstern verstummte nie. 

Sie hatten die Lektion gelernt, doch der Preis war hoch. Der Flüstermann blieb in ihren Gedanken, ein ständiger Begleiter, der ihnen immer wieder ins Ohr flüsterte: „Erinnerungen sind unvergänglich.“ 

Und so lebten sie weiter, gefangen zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, immer auf der Suche nach Frieden, der ihnen nie ganz zuteilwerden sollte.